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Maximale Kollegialität: Verbesserung der beruflichen Effizienz und der Lebensqualität von Ärzten und Ärztinnen

Hintergrund: Zeitmangel im Krankenhaus

Der Alltag als Arzt/Ärztin ist geprägt von Fremdbestimmung. Wir haben oft das Gefühl, dass unsere Arbeit niemals fertig ist. Wir könnten 24/7 arbeiten und hätten immer noch Zweifel, nicht alle unsere Patienten wirklich optimal versorgt zu haben. Gleichzeitig unterliegen wir noch weiteren Verpflichtungen jenseits der direkten Patientenversorgung: Administration, Dokumentation, Forschung, Lehre und außerplanmäßige Verpflichtungen. Diese Zusatzaufgaben sind meistens ebenso notwendig wie wichtig, interessant und in vielen Fällen karrierefördernd. Leider bleibt uns wegen der Aufgabendichte und Dringlichkeit in der Patientenversorgung kaum Zeit, uns diesen Aufgaben während der regulären Arbeitszeit zu widmen. In der Folge erledigen wir sie nachts, am Wochenende in den Ferien oder irgendwie zwischen der Behandlung der Patienten. Zweifelsohne leidet darunter die Qualität und vor allen Dingen die Freude, mit der wir uns diesen Aufgaben widmen. Zusatzaufgaben nehmen wir daher zunehmend als Belastung wahr.

Hinzukommt, dass wir täglich Strukturen oder Prozesse in der klinischen Versorgung erkennen, die eindeutig nicht optimal beschaffen sind. An vielen Stellen haben wir Ideen, wie wir das Krankenhaus für die Patienten, das Personal oder uns selber schlanker, effizienter, besser gestalten könnten.

Leider sind Veränderungsprozesse im Krankenhaus meistens hochkomplexe Projekte, die schnell zu scheitern drohen, wenn sie nicht systematisch und unter Berücksichtigung der wesentlichen Prinzipien professionellen Veränderungsmanagements durchgeführt werden. Nun haben wir in der Klinik für ein nachhaltiges Veränderungsmanagement selten und vor allen Dingen nicht regelmäßig Zeit. Stehen wir als Arzt/Ärztin also auf einem aussichtslos verlorenen Posten, wenn wir weder ausreichend Raum für Administration, Dokumentation, Forschung, Lehre und Spezialprojekte noch für dringend notwendige Veränderungsmaßnahmen haben?

Nein. Denn wenn wir unsere Stärken, Ressourcen und Fähigkeiten mit einigen ausgewählten Kollegen bündeln, ist es möglich, auch neben der klinischen Versorgung größere Projekte zum Erfolg zu führen.

Unbedingte Unterstützung im Team: Das "Backup-Squad"

Es hat sich bewährt, ein “Backup-Squad” innerhalb des Krankenhauses, der Abteilung oder des eigenen Arbeitsbereichs zu gründen. Dieses informelle Team besteht aus 2-4 Kollegen, die sich gegenseitig den Rücken freihalten. Die Gruppe sollte aus Kollegen/innen bestehen, deren Aufgaben und medizinische Expertise sich in weiten Teilen überlappen, so dass jeder vollumfänglich für den anderen einspringen kann.

Nun können sich die Teammitglieder täglich oder an ausgewählten Tagen in der Woche für einen gewissen Zeitraum gegenseitig den Rücken freihalten (“Backup”). Dies kann z.B. eine Stunde in Phasen sein, in denen erfahrungsgemäß die Aufgabendichte in der klinischen Routine etwas geringer ist als in den Spitzenzeiten. Je nach Bedarf und Möglichkeiten können diese Backupzeiten täglich oder in längeren Intervallen ermöglicht werden. Jedes Teammitglied kann sich für den vereinbarten Zeitraum zurückziehen und sich nun während der Arbeitszeit den Aufgaben widmen, die jenseits der unmittelbaren Patientenversorgung erledigt werden müssen.

Es ist uns bewusst, dass ein “Backup-Squad” in einigen Disziplinen leichter umzusetzen ist als in anderen. So kann z.B. ein/e Chirurg/in nicht seine Arbeit unterbrechen, weil er seine/n Kollegen/in für die Projektzeit auf der Krankenstation vertreten soll. Dennoch lassen sich für jede Fachrichtung in jedem Krankenhaus Szenarien vorstellen, die das hier vorgestellte Modell grundsätzlich ermöglichen und seine Vorteile für Patienten/innen, das Krankenhaus und nicht zuletzt Ärzte/innen und Pfleger/innen abschöpfen lassen; sogar in der Chirurgie. Daher sollte das hier vorgestellte Konzept „Backup-Squads“ als ein grundsätzliches Rezept für eine (informelle) Teamstruktur dienen, die natürlich ein hohes Maß an Anpassung in jeder spezifischen klinischen Situation erfordert.

200 Stunden Zeit für Spezialaufgaben

Wahrscheinlich wird die Entlastung am Anfang noch nicht als so hilfreich wahrgenommen, wie sie wirklich ist, weil mutmaßlich die Fülle an Zusatzaufgaben über die Jahre so angewachsen ist, dass eine Stunde täglich für deren Bearbeitung anfangs kaum zu einer sichtbaren Reduktion dieser Altaufgaben führt. Allerdings summiert sich eine Stunde täglich zu 5-7 Stunden in der Woche, was eine Steigerung der dedizierten Projektzeit um wahrscheinlich 500% entspricht. Bei angenommenen 200 Tagen Arbeitszeit kumulierte die Projektzeit auf stolze 200 Stunden pro Jahr, was erheblich mehr Zeit sein dürfte, als die meisten Ärztinnen und Ärzte aktuell aufwenden, um systematische Optimierungen einzuführen, wissenschaftliche Projekte zu bearbeiten oder erfolgreich Maßnahmen umzusetzen, die unmittelbar ihrer Karriere dienen.

Sobald ein Großteil der Altlasten jedoch abgearbeitet wurde und die Projektzeit dann tatsächlich der Initiierung von innovativen Veränderungsprojekten, interessanten Forschungsprojekten oder einer hochwertigen Lehre gewidmet werden kann, haben sich die “Backup-Squad” Teammitglieder von einer reaktiven, passiv-fremdbestimmten Rolle in eine aktiv-gestaltende, selbstbestimmte Position manövriert, was von nun an nicht nur zu einer deutlich gesteigerten Lebensqualität sondern auch zu erheblichen Karrierevorteilen führen kann.

Strukturierung eines „Backup-Squads“

Es sollte auf die Einrichtung von Hierarchieebenen im “Backup-Squad” verzichtet werden. Dieses Team im Team sollte aus gleichberechtigten Partnern bestehen, die durch ihr gemeinsames Interesse geeint werden, für das Wohl der Patienten, die langfristige Prosperität des Krankenhauses und die eigenen Karrieren ungewöhnliche Wege zu beschreiten. Das verbindende Element der Teammitglieder ist das Reziprozitätsprinzip. Jedes Teammitglied profitiert von der Verlässlichkeit seiner Kollegen/innen und wird daher selber versuchen, eben diese Verlässlichkeit zurückzugeben.

Darüber hinaus besteht innerhalb des “Backup-Squads” die Möglichkeit, Aufgabengebiete gemäß dem Interesse und der Fähigkeiten der Teammitglieder zu verteilen. So lassen sich die (geringen) organisatorischen Aufgaben, die unser Modell mit sich bringt, verschiedenen Teammitgliedern zuordnen: Arbeitsberichte an die Klinikleitung, interne und externe Kommunikationsmaßnahmen, Festlegung von Stundenplänen/Backupzeiten u.v.m.. Nach Etablierung des Modells “Backup-Squad”, Festigung des gegenseitigen Vertrauens und Reduktion der persönlichen Alt-Aufgaben, können die Teammitglieder sogar dazu übergehen, die Projekte untereinander aufzuteilen. Vielleicht ist ein Teammitglied eher interessiert an Forschungsaufgaben, während ein anderes mehr Spaß an Lehre und Weiterbildung hat. Ein drittes Mitglied versteht sich dagegen möglicherweise eher auf Prozessoptimierung und Management. Wenn das “Backup-Squad” hier intern entsprechende Verschiebungen der Verantwortlichkeiten vornimmt, sich aber dennoch gegenseitig in die Projekte involviert, können Synergien, Effizienzsteigerungen und Bündelungseffekte freiwerden, von denen alle Mitglieder in erheblichem Maße persönlich und beruflich profitieren.

Akzeptanz und Legitimation

Die Laufzeit des “Backup-Squads” sollte auf mindestens 6 Monate festgelegt werden. In diesem Zeitraum können sich die Projektzeiten zu einer Gewohnheit des Teams entwickeln und auch der Rest der Abteilung kann sich an diese ungewöhnliche Arbeitsteilung gewöhnen. Voraussetzung ist natürlich, dass die Routineaufgaben in den Projektzeiten, zu denen dann ein Teammitglied in der klinischen Versorgung fehlt, völlig uneingeschränkt erledigt werden. Dies setzt ein Höchstmaß an Verlässlichkeit, Sensibilität und Kompetenz der Teammitglieder voraus. Wenngleich es natürlich das Ziel sein sollte, möglichst täglich und regelmäßig Zeit für die Projektarbeit zu haben, besteht trotz des Modells “Backup-Squad” und der Zustimmung durch die Klinikleitung kein unbedingter Anspruch auf die regelmäßige “Freistellung”. Vielmehr sollten alle Teammitglieder stets den klinischen Erfordernissen nach wie vor die höchste Priorität einräumen und an Tagen, an denen es der klinische Alltag nicht zulässt, auf ihre Projektarbeit verzichten. Denn insbesondere in den ersten Wochen werden ärztliche Kollegen und Kolleginnen, Vorgesetzte und Pflegekräfte höchstwahrscheinlich sehr genau darauf achten, ob es durch die Arbeitsteilung zu Einschränkungen in der Krankenversorgung kommt. Bereits minimale Versorgungslücken können die Akzeptanz des Modells besonders in der sensiblen Anfangsphase massiv beschädigen.

Nach Einführung der ersten Optimierungsmaßnahmen, die nachhaltig allen Anspruchshaltern im Krankenhaus zugutekommen, wird dann auch die Akzeptanz des Modells durch die Kollegen steigen. Wir empfehlen daher, die freiwerdende Projektzeit in der Anfangsphase in Maßnahmen zu investieren, die ganz offensichtlich einer dringlichen Optimierung bedürfen und von der möglichst viele Personen im Krankenhaus profitieren. Maßnahmen oder Projekte, die ausschließlich der eigenen Karriere dienen sollten in dieser Phase nicht begonnen werden, damit das „Backup-Squad“ das Vertrauen der Umgebung gewinnen kann.

Außerdem ist für den Erfolg eines “Backup-Squads” die Unterstützung der Klinikleitung von entscheidender Bedeutung. Die Bearbeitung von Administration, Dokumentation, Forschung, Lehre oder Optimierungsprojekten während der sonst üblichen klinischen Routine muss dem Ärztlichen Direktor bekannt gemacht und von ihm gebilligt worden sein. Ansonsten kann leicht der Eindruck entstehen, einzelne Ärzte würden sich während der Arbeitszeit für “Privatprojekte” frei nehmen; leider auch, obwohl alle Maßnahmen ausschließlich den Patienten und dem Wohl der Klinik dienen. Außerdem ist eine Instanz für die Supervision der Gruppe in den allermeisten Fällen sehr hilfreich.

Risikobewertung und Risikominderung

Ziel sollte es schließlich sein, dass sich mehrere “Backup-Squads” innerhalb der Abteilung bilden. Jeder Arzt und jede Ärztin sollte Mitglied eines “Backup-Squads” sein. Die einzelnen Teams sollten untereinander transparent kommunizieren. Auf diese Weise können sich die “Backup-Squads” z.B. in Urlaubsphasen, während Kongressen oder bei einem hohen Krankenstand gegenseitig unterstützen.

Die Bildung von selbsternannten Eliten oder isolierten oder isolierenden Gruppen mit nachfolgend destruktivem Wettbewerb stellt ein Risiko dieses Modells dar, dem mit transparenter Kommunikation zwischen den Gruppen und durch Vermittlung der Klinikleitung begegnet werden muss. Andererseits ist es sicher weitaus nachteiliger zu bewerten und längst nicht mehr nur ein Risiko, sondern vielerorts Realität, dass Ärzte und Ärztinnen im Krankenhaus bei der Gestaltung ihrer Karriere mehr oder weniger auf sich allein gestellt sind und sich als “Einzelkämpfer” durchschlagen müssen. Rückläufige Bewerberzahlen und ein manifester Fachkräftemangel im Gesundheitswesen sind Ausdruck der Dysfunktionalität des bisherigen Systems.

Projektmanagement und Organisation

Das “Backup-Squad” sollte bereits bei der Gründung eine Agenda entwickeln, die alle Aufgaben und Projekte enthält, für die die Projektzeit verwenden werden soll. Hierzu ist sicherlich ein Treffen aller Teammitglieder erforderlich, in dem ehrlich die individuellen Verpflichtungen wie Art und Anzahl der Altaufgaben, Forschungsprojekte, Lehrtätigkeiten und Spezialprojekte mit dem mutmaßlich erforderlichen Zeitaufwand vorgestellt werden (Kickoff-Meeting). Gemeinsam kann das “Backup-Squad” auf Grundlage dieser Lastenvorstellung jetzt abschätzen, wann die individuelle Freistellung der Teammitglieder nicht nur zur Erledigung der jeweils persönlichen Aufgaben genutzt werden kann, sondern das “Backup-Squad” gemeinsame Projekte beginnen kann. Geeignete Projektmanagementwerkzeuge helfen dabei, Ziele, Meilensteine, und Endpunkte festzulegen. Es sollten außerdem Evaluationskriterien definiert werden, anhand derer die Arbeit des “Backup-Squads” qualitativ und quantitativ gemessen werden kann. Unaufgeforderte, regelmäßige Berichte für die Klinikleitung fördern die Akzeptanz des Modells und dienen schließlich als Richtschnur für die Teammitglieder. Zur Erhöhung der Akzeptanz der Arbeit des “Backup-Squads” sollten positive Ergebnisse systematisch innerhalb des Krankenhauses und in einigen Fällen sogar extern kommuniziert werden.

Unabhängig davon, wie gut das Verhältnis der Teammitglieder des “Backup-Squads” untereinander ist, sollte die Freistellung protokolliert und vierteljährlich ausgewertet werden. Denn auch die stärksten Freundschaften leiden darunter, wenn es – höchstwahrscheinlich unbeabsichtigt und klinikbedingt – zu Ungleichheiten in den Freistellungszeiten kommt. Es sollte ein Teammitglied die Protokollierung der Zeiten übernehmen, regelmäßig auswerten und dem Team berichten. Mögliche Dysbalancen könnten so im nächsten Intervall ausgeglichen werden, was langfristig die Motivation aufrechthält, dass sich die Teammitglieder unterstützen.

Fazit

Mit Gründung eines “Backup-Squads” können wertvolle Synergien aus der engen Zusammenarbeit von ärztlichen Kollegen und Kolleginnen gehoben werden. Es wird das Zusammengehörigkeitsgefühl in der ärztlichen Belegschaft gestärkt, was zu einer stärkeren Identifikation mit dem eigenen Krankenhaus führen kann. Die Verlagerung der ärztlichen Aufgaben jenseits der unmittelbaren Patientenversorgung aus der Freizeit in die Arbeitszeit wird zu einer deutlich gesteigerten Lebensqualität und in der Folge zu einer gesteigerten klinischen Leistung führen. Aufgaben wie Forschung und Lehre erhalten endlich einen ernstzunehmenden Raum in der täglichen ärztlichen Arbeitszeit, was auch hier zu einer Verbesserung der Qualität führen kann. Die Identifikation von Prozess- oder Strukturoptimierungen sowie deren nachhaltige Umsetzung wird insgesamt zu einer verbesserten Patientenversorgung, zu einem besseren ökonomischen Ergebnis des Krankenhauses und in einer erhöhten Arbeitgeberqualität resultieren. Mit der professionellen und transparenten Einführung dieses innovativen Modells können den Risiken eines zu hohen Wettbewerbs innerhalb der Abteilung oder der Bildung von isolierten und isolierenden Gruppen begegnet werden.

Umsetzung

Die Gründung von “Backup-Squads” ist ein komplexes Unterfangen, das sowohl mit großer Sensibilität als auch mit hoher Professionalität durchgeführt werden sollte. Zu groß sind die Risiken, dass opponierende Kräfte im Umfeld Krankenhaus dieses Modell sabotieren oder das Ausbleiben von sichtbaren und spürbaren Effekten für die Teammitglieder deren Motivation beeinträchtigen, sich gegenseitig zu unterstützen.

Hannover-Medical.Management bietet daher im Rahmen des Hannover-Medical.Management Manuals eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, detaillierte Checklisten und Vorlagen an, mit denen die Aussicht auf einen langfristigen Erfolg dieses vielversprechenden Modells gesteigert werden kann.

In ausführlichen Kursen (online und on-site) stellen wir nicht nur die inhaltlichen Ebenen des Modells, sondern auch die notwendigen Projektmanagement-Aspekte vor, die eine reibungslose Inaugurierung dieser besonderen Form der Kollegialität gewährleistet. Anhand von klinischen Beispielen illustrieren wir den Einsatz des entsprechenden Kapitels im Hannover-Medical.Management Manual, das Sie hier herunterladen können.